THONET Kaffeehausstuhl Nr. 18

=== Restauration eines Nachbaus ===

Zustand

Regennasse Fundstücke aus dem Sperrmüll konnten zu 2 Kaffeehausstühlen zusammengesetzt werden - Im Thonet-Katalog ist ein der Form nach identisches Möbel unter der Nummer 18 aufgeführt, ein beliebtes Design von A. Thonet aus dem Jahr 1876.
Wasserschäden zeigen sich an Bugholzmöbeln durch Aufplatzen der Fasern an den stark gebogenen Teilen der Lehnen und durch Aufgehen der Knochenleimverbindungen an den kreisrunden Elementen wie Sitzrahmen und Fussreifen. Der dick aufgetragene Lack bot in diesem Fall noch einigen Schutz vor dem gänzlichen Verderben. Er ist sehr spröde und löst sich schuppig. Das Bugholz zeigt auch Quellschäden. Leimfugen haben sich teilweise gelockert, wodurch sich das Bugholz stark deformiert hat. Zusätzlich ist ein Fussreifen durch Überbeanspruchung an allen Verschraubungsstellen abgerissen. Das originale Wiener Geflecht ist bei einem Sitz komplett zerstört, beim zweiten müssen 20% erneuert werden. Ein Teil der Schraubverbindungen ist ausgerissen.

Konstruktion

Der Stuhl besteht aus 6 miteinander verschraubten Bugholzteilen:

  • Ein kreisrunder Sitzrahmen von 400 mm Durchmesser mit zwei angeleimten und geschraubten Verstärkungsstücken zur Aufnahme der gezapften vorderen Stuhlbeine, einer kreisförmigen Nut an der Unterseite und 65 Bohrlöchern (5mm) zur Montage des Stuhlgeflechts (E). Der Rahmen weist an der Hinterseite zylindrische Anfräsungen auf, damit die Lehnenteile formschlüssig anliegen.
  • Der etwa 2 m lange, 3-dimensional gebogene Rotbuchenrundstab unterschiedlichen Durchmessers (24 - 33 mm) bildet die hinteren Stuhlbeine und die Rückenlehne in einem durchgehenden Zug und ist das charakteristische Designelement des Kaffeehausstuhls.
  • Beim Typ 18 kommt ein noch enger geschweifter Rundstabbogen als Lehnenmittelteil hinzu, wobei dessen Enden nicht an die Lehne (wie bei Typ 14), sondern an den Sitzrahmen montiert sind. Lehne und Mittellehnbogen sind am oberen Scheitelpunkt verschraubt. Die Schraubenlöcher sind mit Holzzapfen verdeckt. Den Lehnenmittelteil gibt es in zwei Formen: eine mit engerem Biegeradius und gerade auslaufenden Enden und eine mit grösserem Radius und leicht gegenläufig gebogenen Enden. Die Lehne wird durch kräftige Gestellschrauben mit Vierkantkopf (A) am Sitzrahmen gehalten.
  • Die zwei Vorderbeine sind nur leicht ausgestellt und in die Rahmenverstärkungen eingezapft und geleimt. Der Zapfen wird zusätzlich von einer Senkkopfschraube gehalten. Die Verstärkungsstücke sind innen mit maschinell abgedrehten Senkkopfschrauben angeschraubt, die auch noch im Massivmöbelbau der 1960er Jahre allgemein verwendet wurden (D).
  • Der Fussreifen ist mit Linsenkopfschrauben an die Stuhlbeine angeschlagen. Die Enden sind gesteckt, mit Knochenleim verklebt und außen mit einem dünnen Nägelchen gesichert (B).
  • Das Wiener Geflecht ist im hellen Naturton aus 2,5-mm-Stuhlgeflechtschienen ausgeführt.

Herkunft und Alter

Kaffeehausstühle in Bugholz (bent wood) werden seit 150 Jahren in hohen Millionenauflagen bis zum heutigen Tag von Thonet und diversen Mitkonkurrenten hergestellt. Das Original des Wiener Kaffeehausstuhls (Abb. links) ist identifizierbar am Schlagstempel "Thonet". Die Sitzrahmen beider Fundstücke weisen aber keine Stempelmarken auf, somit stellen die Stücke keine alten Exemplare dar. An einem der Sitzrahmen findet sich innen ein vergilbter Zettelrest, der Aufschluss über den Hersteller gibt. Er trägt die Aufschrift "ZPM RADOMSK[O]", von der sechsstelligen Seriennummer sind die ersten drei Ziffern "101..." noch vorhanden. Dieser Zettelrest hilft beim Identifizieren des Möbels, weist er doch auf die von den Gebrüdern Thonet gegründete Fabrikation im polnischen Novo-Radomsk bei Tchenstochau hin. Die Fabrikation dort begann ab 1881 und erreichte zwischen 1900 und 1930 ihren Höhepunkt, unterbrochen durch die Kriegsjahre, in denen die Stuhlfabrikation ganz zum Erliegen kam. Nach 1945 wurde die Bugholzmöbelfabrik (Fabryca Mebli Gietych, später: FAMEG) verstaatlicht und produzierte auf den alten Thonet-Werkzeugen in nachlassender Qualität weiter - ohne dass von einer Lizenz-Fabrikation für die in der BRD ansässigen Thonet GmbH (Frankenberg) die Rede sein könnte.

In einigen Merkmalen weichen diese Stücke von den frühen Thonet-Stühlen ab: Das Bugholz beschreibt an der Lehnenmitte einen flacheren Bogen und die Beine sind weniger ausgestellt. Die vorderen Stuhlbeine sind weniger elegant geschweift als die alten Originale, mit Knochenleim verklebt und mit einer normalen Senkkopfschraube fixiert. Die alten Modelle hatten noch einen Ankernagel, der sich nicht ziehen ließ.Der obere Sitzrahmenrand ist sowohl außen als auch innen gerundet (E). Dies verhindert das vorzeitige Brechen des Flechtrohrs an der ursprünglich scharfen Innenkante. Der kreisrund gebogene Sitzrahmen ist einfach geschäftet und der etwa 17 cm lange Überlapp ist innen verschraubt (C). Die älteren Stuhlmodelle hatten dagegen eine aufgedoppelte Verbindungsstelle. Auf den nussbaumfarben gebeizten Holzton wurde keine Schellackpolitur aufgetragen. Es scheint sich um einen frühen PU-Lack zu handeln. Für die Verschraubung wurden zum Teil gängige Senkkopfschrauben mit konisch gefrästem Gewinde verwendet. Lediglich die große Gestellschrauben mit 10mm Vierkantkopf und angepresster Druckscheibe, die das hintere Beinpaar am Sitzrahmen halten, weisen noch das zylindrische Gewinde der älteren Thonetmodelle auf. Es wurde nicht nur astfreie Rotbuche verwendet, sondern auch feinastige oder hellere Buchenholzqualitäten. Das Biegen unter Dampf lieferte bei diesen Holzqualitäten teilweise fragwürdige Ergebnisse. So machten sich die engen Radien der Mittellehne durch Faserrisse an der Aussenseite und Druckmarken an der Innenseite bemerkbar. Solche Ausschussstücke wurden verbaut und Fehler im Finish zugekittet. Der Werkszettel belegt, dass die Fundstücke frühestens mit der Wiederaufnahme der Produktion in der Zeit nach 1945 unter staatlicher Leitung entstanden sein können. Die Serialnummer in einem Nummernkreis größer 100.000 deutet allerdings auf ein wesentlich späteres Jahr, vermutlich in den sechziger Jahren hin.

Abb. links: frühes Thonet Original - Abb. Mitte: Fabrikation Radomsk - Abb. rechts: Fabrikation Radomsk, abweichende Lehnenvariante, beide im aufgearbeiteten Zustand.

Im Jahr 1961 brachte auch IKEA unter dem Namen ÖGLA (schwed.: "Schlaufe") einen von FAMEG in hoher Auflage hergestellten Stuhl mit glatter Sperrholzsitzfläche als Zitat des Thonet Nr. 18 heraus (Design Gillis Lundgren), den der Kunde als flat pack (siehe Abb.) kaufen und selbst aufbauen mußte. Massenfabrikation zu einem attraktiven Preis und in bunten Lackierungen machten das demokratic design des Kaffeehausstuhls wiederum zu einem Bestseller. Die ÖGLA-Stühle hatten neben dem IKEA-Aufkleber auch einen Werkszettel von ZPO Radomsko unter dem Sitz.

Die aufgearbeiteten Stücke sind zwar auch nach der Aufarbeitung kaum von materiellem Wert. An ihnen läßt sich aber bis ins Detail die Entwicklung eines spätbiedermeierlichen Stuhldesigns zur Nachkriegsmassenware des 20. Jh. nachvollziehen.

Literatur

  • BANGERT, A.: Thonet Möbel. Bugholz-Klassiker von 1830 bis 1930. Heyne, München 1997, ISBN 3-453-13047-2
  • MILLER, Bruce W. , WIDENESS, Jim: Das Buch vom Stuhlgeflecht. Th. Schäfer, Hannover 2005
  • THILLMANN, W., WILLSCHEID, B.: MöbelDesign - Roentgen, Thonet und die Moderne, Roentgen Museum Neuwied, Neuwied 2011, ISBN 978-3-9809797-9-5